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Freunde

Man sagt, es sei einfach, ein Kind zu sein.
Für Dich traf das nicht zu, fällt mir dabei ein.
Vierundzwanzig Jahre ist es her, doch nie könnt ich es vergessen
wie ich Dich das erste Mal sah am Bahnhof in Essen.
Ein Junge in meinem Alter, wohl zehn Jahre alt,
am Haupteingang schlotternd stehen
denn es war Winter und kalt.
Den Kragen hochgeschlagen, das Gesicht schon halb erfroren
mit todtraurigen Augen und kälteroten Ohren.
„Was ist mit dem Jungen?“ hör ich mich noch fragen
und meine Mutter nur kurz „Wir müssen weiter!“ drauf sagen.
Ihr Schritt wurde schneller, sie zog mich hinterher
doch ich konnt den Blick nicht abwenden mehr.
Ich riss mich los und ging auf dich zu.
„Hallo, ich bin Chris. Und wie heißt Du?“
Du sahst mich an, voll ungläubigem Staunen,
dann antwortest Du – es war mehr ein Raunen:
„Mein Name ist Toni.“ Weiter kamst Du nicht.
Schon hatte meine Mutter mich am rechten Arm erwischt:
„Red nicht mit ihm. Er will sicher betteln. Und vielleicht sogar klauen. Kindern wie diesen kann man nicht trauen.“
Ich hörte ihre Worte, doch ich verstand sie nicht.
Sah sie denn nicht die Augen in deinem blassen Gesicht?
„Ich glaube er hat Hunger!“ erwiderte ich nur.
Meiner Mutter missfiel es sehr, dass ich blieb hier so stur.
„Dann soll er sich was kaufen!“ erwiderte sie bloß, packte fester meinen Arm und marschierte eilig los.
Ein letztes Mal lief ich ihr fort, ganz flott zu Dir zurück.
Und reichte Dir die Tüte mit Teilchen drin, zwei Stück.
Du konntest es kaum glauben, kein Wort brachtest Du heraus
währenddessen ich dann ging
mit meiner Mutter schnell nach Haus.

Es war drei Wochen später, in Neuss, die Schule war aus.
Da warteten drei Jungen, ganz in der Nähe vom Schulhaus.
Sie wollten mich verprügeln, den Grund weiß ich nicht mehr,
ich lief so schnell ich konnte, die drei mir hinterher.
Ich lief über die Straße, die Autos waren mir egal,
ich hörte Reifen quietschen und Gehupe, mit Glück entkam ich ihrem Stahl.
Die drei blieben zurück, ich war schon am jubilieren
was ich nicht ahnte – sie waren zu vieren.
Der Vierte kam um die Ecke, ich sah ihn nicht, der Rest ist nur allzu bekannte Geschicht.
Ich schlug mich so gut ich konnte, und das war nicht viel
denn einer gegen vier ist echt ein Scheißspiel.
Doch bekam ich plötzlich Hilfe, zwei Jungen
sprangen zur Stell, bewaffnet mit zwei Stöcken
die andern flohen schnell.
Während ich mir rieb die schmerzenden Glieder
erkannte ich in einem der Jungen eben Dich wieder.
„Toni vom Bahnhof!“ rief ich freudig aus.
Du lachtest. „Hi, Chris!“
Dann gingen wir nach Haus.
Du erzähltest, Du seist in die Stadt gezogen, vor wenigen Tagen nur.
Dann hattest du es sehr eilig und blicktest auf die Uhr.
Wir tauschten schnell Adressen, dann warst Du auch schon fort.
Ich konnte es kaum glauben, wir wohnten im selben Ort.

Von nun an sahen wir uns oft, fast täglich kann man sagen.
Ich konnt mit Dir über alles reden
nur nie nach deiner Familie fragen.
Warum das wurde mir erst später klar, als ich ein wenig älter war.
Fiel meiner Mutter deine Freundschaft zu mir anfangs auch sehr schwer
mit der Zeit mochte sie Dich schließlich, mehr und mehr.
Mein Vater hatte eh kein Problem mit Dir, sagte: „Wir haben nicht mehr nur drei Kinder, wir haben jetzt vier!“
Es gab nichts, was wir nicht zusammen machten, auch oft groben Unfug, über den wir sehr lachten.
Doch privat hattest Du nicht viel zu lachen, das hatte ich schnell raus.
Wie traurig und ängstlich schautest Du immer, wenn du musstest nach Haus.
Und dann deine Unfälle, Stürze und blaue Flecken.
Ich sah sie oft, nicht nur im Schwimmbecken.
Eines abends, ich kam gerade die Treppe runter, hörte ich meine Eltern reden – nicht gerade munter.
„Hast du Toni heute gesehen? Ich kann so was einfach nicht verstehen? Wie kann man ein Kind nur so brutal schlagen? Es reicht, wir müssen der Polizei etwas sagen! Der arme Junge ist in großer Not, seine kranken Eltern schlagen ihn noch tot!“
Ich wollte es nicht verstehen, was mein Vater sagte über Dich.
Ich wollte es nicht sehen, denn ertragen konnt ich´s nicht.
Das Jugendamt schaltete sich ein
Du kamst ins Neusser „St. Anna – Heim“.
Dort bliebst Du bist Du achtzehn warst, dann zogst Du in ´ne eigene Bude,
im Nachbarort namens Kaarst.

Die Jahre kamen und vergingen, die Mädchen ebenso, zwei Ausbildungen jeder, trotzdem, wir waren froh.
Du spieltest Rock in einer Band, ich sang in Musicals vor,
doch so unterschiedlich wir uns auch entwickelten,
wir hatten füreinander noch stets ein offnes Ohr.
Du bekamst Familie, zwei Kinder und eine wunderbare Frau,
ich zog das Singledasein vor, zu wild war ich genau.
Ich wollte mich nicht binden, zu rastlos war ich dafür,
bis mein Leben mich einholte, vor einigen Wochen an der Tür.
Es war schon spät am Abend, meine Freundin war grad fort,
da schellt es an der Tür von meiner Wohnung dort.
Das Gesicht des Jungen der vor mir stand, kannte ich lange schon,
es gehörte Mario, deinem elfjährigen Sohn.
„Es gab einen Unfall!“ sagte er die Tränen im Gesicht, „Und Papa… mein Papa überlebte ihn nicht!“
Ich konnte nichts sagen und hielt ihn nur fest.
Der Junge am schluchzen, das gab mir den Rest.
Ich wollte ihn trösten, doch fand die Worte nicht.
Wo ich tausend Wörter sonst kenne für jede Geschicht.

Dein Leben war kurz, doch Du hast soviel gegeben, als Ehemann, als Vater, und als mein Freund eben.
Wir hatten viel geplant, soviel wollten wir noch machen
zusammen Träume verwirklichen und später drüber lachen.
Es sollte nicht sein, das Leben hatte es anders vor
mit Toni, meinem Freund mit dem offenen Ohr.

Zwei Dinge hat dein Schicksal mich gelehrt:
Zu warten auf später ist immer verkehrt.
Wenn Du Träume umsetzen willst, warte nicht, mach´s nicht later.
Denn es gibt vielleicht kein Später.
Das zweite ist nicht zu unterschätzen:
nichts kann echte Freundschaft ersetzen.
Bekannte gibt´s im Leben viele
sie kommen und gehen.
Einen wirklichen Freund kann man hingegen
vielleicht nur einmal im Leben sehen.

Für Toni ( 1972-2006)

Christoph Schlüter, November 2006

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